Pfingstgespräch: Präsentation der Zehn-CD-Edition „Die Burg-Waldeck-Festivals 1964–1969“

Zum Zeitpunkt des traditionellen Pfingstgespräches am Pfingstsonntag-Morgen wurde in diesem Jahr die

Zehn-CD-Edition mit Begleitbuch

Die Burg-Waldeck-Festivals 1964–1969“

der Bear Family Records einem großen, interessierten Publikum vorgestellt.

Im Mittelpunkt stand dabei ein Referat von Prof. Dr. Holger Böning von der Uni Bremen, der den Festivals eine eindrucksvolle Rolle in der kulturhistorischen Entwicklung des Liedes und seiner Bedeutung zuwies.

Holger Böning - Foto: molo

Holger Böning – Foto: molo

Der Vortrag

Johann Gottfried Herder hätte sich mit Peter Rohland und vielen anderen Waldecker Sängerinnen und Sängern gut verstanden – schließlich hatte er mit aufklärerischem und völkerverbindendem Impetus die Volkslied-Erforschung in Deutschland begonnen und damit auch die In-Wert-Setzung des Volksliedes.

Dass das Liedersingen in der Zeit des Dritten Reiches instrumentalisiert und missbraucht wurde, führte in den ersten Jahren danach zu „adornitischer Schweigezeit“ und „ideologiekritischer Gesangsverweigerung“ (Walter Mossmann und Peter Schleuning). Auch ein Teil des bündischen Liedgutes wurde in der Nachkriegszeit als Nazilieder verunglimpft. „Franz Josef Degenhardt berichtet, er habe in einer Straßenbahn die Drohung mit Prügel erlebt, sänge er weiter diese Nazilieder.“ Die Deutschen waren in dieser Zeit „ein Volk ohne Lieder“.

Aus Bönings Sicht gab es damals nur wenige Orte in Deutschland, von denen eine Wiederbelebung des Liedes ausgehen konnte, und dazu zählte die Waldeck. „Hier lebte weiterhin die Tradition des gemeinsamen Singens, man kannte, sammelte und sang mit Respekt die Lieder fremder Völker, auch andere Verbindungen, zum poetischen Kunstlied etwa oder zu den Kabarettliedern der Weimarer Zeit, waren nicht völlig abgeschnitten.“ Peter Rohland z.B. hatte seit 1952 auf der Waldeck mit den Singewettstreiten zu dieser Valorisierung und Weiterentwicklung des traditionellen bündischen Liedgutes beigetragen.

So war es kein Zufall, dass Ende 1962 von Peter Rohland, Rolf Gekeler, Diethart Kerbs und Jürgen Kahle die Idee der Festivals entworfen wurde. Und auf der Waldeck fand dann 1964 das erste Open-Air-Festival in der BRD statt, konzipiert als „Werkstatt“ (Diethart Kerbs), „Bauhaus der Folklore“ (Oss & Hein Kröher). Ein Austausch von Liedern, aber auch von Ideen – und dies bei größtmöglicher Freiheit für die Meinung des Anderen.

Die Festivals schaffen eine produktive Atmosphäre des Singens und Diskutierens, in der junge Künstler sich ausprobieren können und Resonanz erhalten. Rund um die Uhr wird gesungen und gestritten. Walter Mossmann etwa, bald einer der wichtigsten deutschen Chansonniers, erhält 1964 den Anstoß zu eigenen Liedern. Schon 1965 trägt er sie mit großem Erfolg vor, nach dem Auftritt des Jahres 1966 nennt ihn die FAZ als größte Entdeckung des Festivals. Seine Vorbilder sind Boris Vian und mit Georges Brassens jener Poet, der ‚eine ganze Nation zum Singen gebracht hat’. Durch Sänger wie Mossmann entstand tatsächlich so etwas wie das auf der Waldeck angestrebte ‚Bauhaus des europäischen Liedes’.“

Neu für Deutschland war vor allem das Chanson. Das selbstgeschriebene und selbstvertonte Lied spielte eine immer wichtigere Rolle: Ein Chanson ist „keine Manifestation eines rauschhaften Gemeinschaftsgefühls“ (Diethart Kerbs). Es ist dazu bestimmt, vorgetragen und nicht in Chorformation gesungen zu werden, und es braucht den Zuhörer.

Vor den Festivals hatte es in deutscher Sprache nur Schlager gegeben. Die Öffentlichkeit begann wahrzunehmen, dass es deutsche Lieder gab, die zu singen Spaß machte. Durch Hörfunk und Fernsehen, aber auch durch kursierende private Tonband-Mitschnitte („deren Qualität von Kopie zu Kopie immer schlechter wurde“) erfuhr der Jugendliche, dass er mit seinem Unbehagen an der restaurativ erstarrten Gesellschaft am Ende der Adenauer-Ära nicht allein war.

Bald wurden auch aktuelle politische Bezüge hergestellt: zu der Ostermarschbewegung, zum Auschwitz-Prozess. „Wo man durch den Auschwitz-Prozess gerade erfahren hatte, was gut zwanzig Jahre zuvor Unfassbares geschehen war, hörte man mit Dieter Süverkrüps ‚Kirschen auf Sahne’ ein erstes Lied mitfühlender Solidarität.“ Degenhardt formulierte das diffuse Unbehagen an der Gesellschaft am Ende der Adenauer-Ära, die den Kindern die Vergangenheit verweigerte und damit Zweifel an der Integrität der Eltern schürte.

1967 erhält das Festival den Untertitel „Das engagierte Lied“. Damit zeichnete sich der Beginn einer Radikalisierung ab. Diese „wird durch den Anspruch charakterisiert, vom Unbehagen an gesellschaftlichen Symptomen zu deren Ursachen im gesellschaftlichen System vorstoßen zu wollen.“ Der Militärputsch in Griechenland, die Situation im Iran, der Vietnamkrieg, aber auch der Rassismus in den USA, all dies hatte zur Glaubwürdigkeitskrise beigetragen und führte zur Fundamentalopposition gegen die herrschende Politik. Auf dem Festival entwickelte z.B. die Gruppe Floh de Cologne die Utopie eines freien, selbstbestimmten Lebens.

1969 dann das Ende: die aufeinander prallenden Meinungen waren nicht mehr vereinbar.

Ein besonders wichtiges, bleibendes Ergebnis der Festivals ist für Böning die Wiederentdeckung des Singens, das nach Yehudi Menuhin die „eigentliche Muttersprache“ des Menschen ist.

Richard Weize - Foto: Stephan Rögner

Richard Weize – Foto: Stephan Rögner

Die Edition

Im Anschluss an das Referat wurde die Waldeck-Festival-Edition von deren „Machern“ vorgestellt. Richard Weize, Initiator und Leiter von Bear Family, schildert den mühsamen und langwierigen Weg

  • von Helm Königs vom Schwund bedrohten Materialbeständen in Form der ursprünglichen, analogen Tonbänder von 1964 bis 1967,
  • über deren Übertragung auf digitale Datenträger (DAT-Kassetten) und kleinteilige Dokumentation durch Stephan Rögner,
  • über die digitale Bearbeitung der Bänder durch das Deutsche Rundfunkarchiv, aus der ein Paket von 147 CDs hervorging und der ABW zur Verfügung gestellt wurde,
  • über die Beschaffung der Tonbänder von 1968 und 1969, die sich im Besitz von Wilfried Zahn befanden, der ab 1968 die Aufnahme weitergeführt hatte,
  • über die Bearbeitung dieses Materials durch den von Bear Family beauftragten Fachmann Jürgen Feuß, der das Material sichtete, bearbeitete und in jahrelanger Arbeit herausfilterte, was tontechnisch und qualitativ seinen Ansprüchen an eine CD-Edition genügte,
  • bis zu den Arbeiten an der detailreichen und reich bebilderten Dokumentation in dem 240 Seiten starken Begleitbuch von Michael Kleff, mit Beiträgen vieler Zeitzeugen, unter anderen von Jürgen Kahle, sowie Fotos und Kurz-Charakteristiken der Künstlerinnen und Künstler.

So liegt schließlich, komprimiert aus 147 CDRs, eine Dokumentation aller Waldeck-Festivals der sechziger Jahre vor: Zehn – übrigens wunderschön und sehr praktisch präsentierte – CDs mit Life-Mitschnitten (inklusive zahlreicher O-Töne aus Vorträgen und Diskussionen von damals), insgesamt fünfzehn Stunden bislang zum größten Teil unveröffentlichte Musik von mehr als achtzig nationalen und internationalen Interpretinnen und Interpreten

  • von Franz Josef Degenhardt bis Reinhard Mey,
  • von Odetta bis Phil Ochs,
  • von Walter Moßmann bis Hannes Wader,
  • von Lin Jaldati bis Perry Friedman,
  • von Peter Rohland bis Hein & Oss Kröher,
  • von Hedy West bis Guy Carawan,
  • von Xhol Caravan bis zu Floh de Cologne,
  • von Christof Stählin bis Schobert & Black,
  • von Colin Wilkie & Shirley Hart bis Fausto Amodei,
  • von Dieter Süverkrüp bis Rolf Schwendter.
Michael Kleff - Foto: molo

Michael Kleff – Foto: molo

Für das umfangreiche Begleitbuch zeichnet der Chefredakteur des Folker! Michael Kleff verantwortlich, der auch die Bear-Family-Edition „Für wen wir singen“ (besprochen in Köpfchen1-4/07) samt Begleitbuch zusammengestellt hat. Es enthält

  • eine „Annäherung an eine Festivalgeschichte“ von Michael Kleff,
  • „Erinnerungen: Der Stoff aus dem Legenden sind“
    mit Beiträgen von Eckard Holler, Hanns Dieter Hüsch, Jürgen Kahle, Diethart Kerbs, Helmut König, Oss & Hein Kröher, Carsten Linde, Thomas Rothschild, Lothar Sauer, Hotte Schneider, Tom Schroeder, Günter Zint,
  • Texte und Fotos zu den einzelnen Sängern.

Besonders hervorzuheben an dem Begleitbuch ist die Tatsache, dass im Mittelpunkt die authentischen Erklärungen, Stellungnahmen und Bewertungen der Sängerinnen und Sänger stehen.

Die Fülle von Informationen über Entstehungsgeschichte und Hintergründe der Edition, die anlässlich der Präsentation dargestellt wurden, machten insbesondere für diejenigen der Anwesenden, die selbst in irgendeiner Funktion etwas mit den Festivals zu tun gehabt hatten, den Vormittag zu einem emotionalen Akt des Wieder-Erlebens.

Aber – und das zeigte die sich anschließende Diskussion – eben nur für diese Gruppe. Von anderen gab es Fragen nach dem „Davor“ und „Danach“ der Festivals, deren Beantwortung den Rahmen der Veranstaltung gesprengt hätte.

Diese Fragen führten aber zu einer sehr kreativen Ergänzung: Mike lud alle Neugierigen zu einer gesonderten Gesprächsrunde ein. Die Einladung fand regen Zuspruch und führte zu der Empfehlung, bei zukünftigen Liederfesten ein offenes Informationsangebot an alle zu machen, die sich für geschichtliche Zusammenhänge auf der Burg Waldeck interessieren.

Insgesamt zeigte die Veranstaltung: die präsentierte Edition ist weit mehr als „nur“ eine verlegerische Großtat der Bear Family Records um und mit Richard Weize. Sie ist zu einer überaus gelungenen und gut zugänglichen Dokumentation einer für die Waldeck und die ABW an Bedeutung für ihre Geschichte wahrscheinlich einmaligen Epoche geworden. Und sie ist so gut geworden, weil ungewöhnlich viele engagierte Menschen sehr viel mehr als nur Arbeitszeit und professionelle Kenntnisse eingebracht haben.

Reiner Kraetsch

Die Burg Waldeck Festivals 1964–1969. Chansons Folklore International. Eine Ko-Operation mit Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. und die tageszeitung, 10 CDs und ein Begleitbuch von Michael Kleff, 240 Seiten, Hambergen (Bear Family Records) 2008, BCD 16017 JC, ISBN 978-3-89916-394-0.

(aus: KÖPFCHEN 2/2008, Seite 14ff.)


Presse-Echo:
Über die „68er-Bewegung“ wird im Jubiläumsjahr viel geschrieben. Auch der neuen Singekultur, die auf der Waldeck ihren Anfang nahm, wird gedacht. So z.B. in der Zeit vom 24. April, in der taz vom 26./27. April, in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni und in 3Sat „Kulturzeit“ vom 13.Mai 08.

Leider wird in den meisten dieser Rückblicke die Bear-Family-Edition – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt. Detaillierte Besprechungen dieser Edition stehen noch aus. Nur im Folker! 04/08 erschien eine Besprechung von Kai Engelke. Im WDR 5 wird am 28. September, 21 Uhr, eine einstündige Würdigung der Edition durch Hans Jacobshagen gesendet.

Hier einige der bisherigen Erwähnungen:

„…gibt es hier mit dieser Jubiläumsausgabe einen Fundus, der für unser deutsches Liedgut in dieser Menge und Qualität selten, wenn nicht gar einmalig ist. …“
hh, Folkmagazin 277, Heft 3/2008, Seite 43.

„Wie … heimische Liedermacherkunst, Bänkelsängerei, Kabarett, Folklore, Gegenkultur, Protest, Widerstand und Chanson … langsam zu einer eigenen Sprache fanden, erklärt nun die verdiente Erinnerungsfabrik Bear Family Records aus dem kleinen Hambergen. …“
Jan Wigger, Spiegel online, Kultur – 17. Juni 08, www.spiegel.de.

„Umfangreiche Aufarbeitung des deutschen Liedermacher-Phänomens am Beispiel des legenden-umrankten Festivals, entsprechend voluminös aufgemacht, kenntnisreich erarbeitet und liebevoll ausgestattet vom Bear Family Label.“
www.schattenblick.de.

„Eine Box wie ein Monument, ein rundum gelungenes Projekt von passabler Song- und herausragender Editionsqualität.“
mw, www.kulturnews.de.


Anmerkung der Redaktion:

Aus gegebenem Anlass weisen wir darauf hin, dass das Waldeck-Festival-Plakat mit den fünf Linien und den Fingerabdruck-Spatzen von Prof. Walter Breker von der Kunstakademie Düsseldorf entworfen wurde und nicht vom Bildhauer Arno Breker, der in Dritten Reich berühmt wurde. Siehe dazu Köpfchen 4/1999, Seite 8.

(aus: KÖPFCHEN 2/2008, Seite 14ff.)