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Holger Böning: Peter Rohland, die Waldeck-Festivals und das politische Lied der Revolution von 1848

Vortrag von Holger Böning anlässlich der Eröffnung der Peter-Rohland-Ausstellung im Willy-Brandt-Haus am 15. September 2011. (PDF-Download)


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

am 27. Mai 1965 kam es im Hunsrück – auf Burg Waldeck, einem der Haupttreffpunkte der bündischen Jugend – zu einem denkwürdigen Konzert. Ein junger Sänger – Peter Rohland – stimmte Lieder an, die man in Deutschland seit Jahrzehnten, manche seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr gehört hatte: Gesänge des Vormärz und der Revolution von 1848. Und er sang sie mit einer solchen Freude und einer solchen Lebendigkeit, dass man meinen konnte, diese Lieder seien für die Gegenwart gemacht.

Peter Rohland, 1933 geboren, mußte als Kind den Krieg erleben, entwickelte starke zeitgeschichtlich-politische Interessen, wurde – wie die Mutter – zunächst Wandervogel, später Jungenschaftler in der Schwäbischen Jungenschaft, und – wie der Vater, ein ausgebildeter Opernsänger –Musikenthusiast. „Singen ist das Fundament zur Musik in allen Dingen“, so lernte er bereits im Elternhaus, gemeinschaftlichen Gesang erlebte er in der bündischen Jugend. Fahrten nach Frankreich, Italien, Griechenland und in den Orient führten aus dem engen Deutschland bis in den Irak, wo den Liedersammler und -sänger fremde Kulturen anregten. 1954 begann er ein Jurastudium, sammelte für den öffentlichen Vortrag Lieder der Schiffer und Fuhrleute, der Landstreicher und Vaganten, vertonte Villon-Gedichte, brach das ungeliebte Jurastudium ab – er könne nicht vom Streit anderer Leute leben – und studierte ab 1956 in Berlin Musikwissenschaft und Musikethnologie. In den nächsten Jahren wurde er zum regelrechten Liedforscher, der seine Entdeckungen sogleich auch vortrug, setzte sich mit jiddischen Liedern, diesen Zeugnissen einer fast vernichteten Kultur, auseinander und begründete hier Traditionen, die in der Folge von vielen Folkgruppen aufgenommen wurden.

Es begannen Peter Rohland auch die Lieder der bürgerlichen Revolution in Deutschland zu faszinieren, und er entdeckte, dass jedes Lied brandaktuell war. Mit soviel Bitterkeit wie Spott, mit Ironie und Wut wurde der deutsche Obrigkeitsstaat beschrieben, jenes deutsche Wesen, das in einer immer und überall brauchbaren Untertanengesinnung seine Vollendung fand. Und so sang Peter Rohland mit den Worten Georg Herweghs:

„Du sollst verdammte Freiheit mir, die Ruhe fürder nicht gefährden!
Lisette, noch ein Gläschen Bier! Ich will ein guter Bürger werden.“

Natürlich ging es in diesen Liedern nicht allein um Spott. In ihnen war vor allem der Traum von einem Gemeinwesen lebendig, in dem Menschen frei und gleich – geschwisterlich – zusammenlebten. Nachdem Deutsche erstmals 1792 in Mainz Freiheitsbäume aufgestellt und in der Mainzer Republik für einen kleinen Augenblick eine bis zur Französischen Revolution unvorstellbare Ordnung ohne Fürsten und Könige erprobt hatten, gewann die Reaktion trotz aller Hoffnungen, die mit den Befreiungskriegen genährt worden waren, wieder Oberwasser. Die Gedanken der Aufklärung, die Ideale der Französischen Revolution, republikanische Prinzipien, sie schienen begraben unter neuer Machtfülle der Gottesgnadenherrscher, aus der Öffentlichkeit verbannt durch Zensur, und damit, wie die Höfe und ihre Lakaien hofften, eliminiert auch aus den Vorstellungen der Bürger.

Doch es bedurfte nur der Anstöße, damit sie wieder Kraft gewannen. Aus dem Westen kamen sie 1830 mit der Julirevolution in Frankreich, aus dem Osten mit dem Novemberaufstand der Polen im selben Jahr. Diese gesamteuropäische Bewegung beeindruckte auch in vielen deutschen Regionen, in der Pfalz wurden in 50 Orten Freiheitsbäume errichtet, 1832 kam es zum ersten demokratischen Großereignis in Deutschland, dem Hambacher Fest von 1832. 30.000 Menschen sangen neben der Marseillaise auch ein „Polnisches Mailied“ und das „Noch ist Polen nicht verloren“. „Wir pflanzen die Freiheit, das Vaterland auf“, hieß es in einem Lied Philipp Jakob Siebenpfeiffers. Und in einem anderen Lied, erstaunlicherweise gesungen von Bauern, waren die Verse zu hören:

„Die freie Presse, Brüder, sie soll leben!
[…]
Denn wo man darf die Rede frei erheben,
Kommt alles noch in Reih’.“

Heinrich Heine hat das Hambacher Fest mit jenem der Burschenschaftler auf der Wartburg verglichen: „Dort, auf Hambach“, so Heine, „jubelte die moderne Zeit ihre Sonnenaufgangslieder, und mit der ganzen Menschheit ward Brüderschaft getrunken; hier aber, auf der Wartburg, krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! Auf Hambach hielt der französische Liberalismus seine trunkensten Bergpredigten, und sprach man auch viel Unvernünftiges, so ward doch die Vernunft selber anerkannt als jene höchste Autorität, die da bindet und löset und den Gesetzen ihre Gesetze vorschreibt; auf der Wartburg hingegen herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anders war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand“.

Flugschriften verbreiteten die in der Folge des Hambacher Festes entstehenden Lieder, in Zeitungen wurden sie ebenso abgedruckt wie in sofort eingestampften Liederbüchern, doch pflanzten sie sich fort von Mund zu Mund so weit die deutsche Zunge reichte. Sie begleiteten die revolutionären Ereignisse im Frühjahr 1848, stifteten Gemeinsamkeit im „Bürgerlied“ oder gaben der Wut Ausdruck in herben Schlachtrufen wie „Fürsten zum Land hinaus, nun kommt der Völkerschmaus!“

Nach dem Scheitern einer grundlegenden politischen Umgestaltung boten Lieder trotzigen Trost: „Trotz alledem“ – das wurde zur Parole, immer wieder umgedichtet bis heute, denn jener damals empfundene „schnöde kalte Winterhauch“ sollte die deutsche Geschichte lange begleiten. Ein wichtiger Erinnerungsort, mitten im ehemaligen, demokratischen Ideen abholden Preußen, ist der Friedhof der Märzgefallenen, der versteckt im Volkspark Friedrichshain liegt. Hier, wo der Berliner Opfer der Revolution gedacht wird, findet aktuell eine Ausstellung unter dem Motto jenes „Trotz alledem“ statt.

Republikanische Traditionen, wie sie durch Mainzer Republik, Hambacher Volksfest und die Märzereignisse des Jahres 1848 begründet wurden, hatten es schwer in Deutschland. Mit ihnen hunderte von Liedern, vergessen, als habe es sie nie gegeben. Besonders für die Jahre nach 1945 gilt, dass die Deutschen zu einem Volk ohne Lieder geworden waren. Die Volkslieder waren, wie Franz Josef Degenhardt es formuliert hat, verklampft von Oberlehrern, zertreten von Kurzbehosten oder marschierenden Kolonnen im Feldgrau. Orte, an denen gesungen wurde, waren nur wenige geblieben. Zu ihnen gehörten – trotz mancher befremdlichen Momente, die der bündischen Bewegung und ihrem Liedgut auch zu eigen sind – deren Treffpunkte, darunter die Burg Waldeck.

Hier hatte man traditionell nicht nur jene Lieder gesungen, die nach 1945 auch bei den Bündischen durchweg tabu waren, sondern – gefördert durch eigene Fahrten in alle Welt, insbesondere des Nerother Wandervogels – stets auch die Lieder fremder Nationen und aktuelle literarische Lieder. Der Gedanke der Geschwisterlichkeit über Ländergrenzen hinweg gehört ebenso zu den Traditionen eines Teils der bündischen Jugend wie kulturelle Aufgeschlossenheit und Achtung fremder Kulturen. In den fünfziger Jahren konnte man – auch durch Peter Rohlands Einfluß – auf der Waldeck nicht nur Negrospirituals, Railroadsongs, Rembetika, Skifflemusik, jiddische Balladen, südamerikanische und afrikanische Musik oder die ersten Lieder von Mikis Theodorakis hören, sondern ebenso auch gesungene Verse Bertolt Brechts, Frank Wedekinds und Kurt Tucholskys.

Es ist so kein Zufall, dass junge Mitglieder der Studentischen Arbeitsgemeinschaft – unter ihnen Peter Rohland – auf der Burg eine Veranstaltung initiierten, die den Liedern aus aller Welt und dem deutschsprachigen Lied gleichermaßen gewidmet sein sollte, die legendären Festivals auf der Burg Waldeck, das erste deutsche Open-Air-Festival. Das Chanson vermisste man in Deutschland, ihm maß man, da es seine Zuhörer ernst nimmt, demokratische Qualität zu. Chansons, so hieß es 1964 in der Eröffnungsrede von Diethart Kerbs, seien „Anrede an den Einzelnen, sie brauchen den Hörer und lassen ihn gelten.“ Bevor sich 1967/68 die neue kritische Sicht auf die Bundesrepublik, durch Megaphone verstärkt, auf den Straßen Ausdruck verschaffte, noch bevor die kulturelle Neuorientierung im gesamtgesellschaftlichen Alltag ihren Niederschlag fand, waren es 1964/65 leise Lieder, die weniger genau analysierend als vielmehr andeutend dem Empfinden Ausdruck gaben, das eine Generation von jungen Intellektuellen prägte. Sie hatten bei der „Spiegel“-Affäre erstmals protestiert, verehrten Kennedy, waren westlich-zivilisatorischen Werten zugetan, aber unzufrieden angesichts der mehr und mehr unbeweglich erscheinenden Gesellschaft nach dem Ende der Adenauer-Ära. Hier liegen die Gründe dafür, dass die neuen, auf der Waldeck gesungenen Lieder mit explosiver Kraft eine Wirkung entfalteten, für die das zunächst vorherrschende „Ungefähr-Oppositionelle“ wichtig war, das in einer vagen politischen Kontur der Liedaussagen lag, die durch folkloristische, satirische und lebensweltlich-anarchistische Elemente, wie sie beispielsweise in Liedern von Schobert & Black oder Hannes Wader sichtbar wurden, zusätzlich diffus gehalten wurde. Von der Waldeck gingen Impulse aus in einem Land, in dem man nach 1945 nicht mehr singen konnte und mochte. Nun lernte man wieder, sich singend und in der eigenen, scheinbar allein trivialen Liedchen und Schlagern vorbehaltenen Sprache auszudrücken und mit Musik und Liedern anderer Kulturen vertraut zu werden.

Was 1964 während des ersten Festivals auf der Burg Waldeck zu hören war, bestärkte Peter Rohland zusätzlich, nach historischen politischen Liedern der deutschen Freiheitsbewegungen zu forschen. Er ließ sich dabei vermutlich auch durch Wolfgang Steinitz anregen, den großen deutsch-jüdischen Liedersammler, doch durchforstete er vor allem selbständig alte Liederdrucke, vertonte politische Gedichte und schuf so ganz neue Lieder oder er ging nach Freiburg in das Deutsche Volksliedarchiv. Walter Mossmann traf ihn dort 1964 und erinnert sich, wie Rohland Feuer und Flamme war, all die vergessenen Vormärzdichter wie Adolf Glasbrenner, Hoffmann von Fallersleben oder Franz Dingelstedt wieder lebendig werden zu lassen und die Flugblattlieder vom Staub der Archive zu befreien.

In einem Brief an eines dieser von ihm besuchten Archive schreibt Rohland über seine Motive: „Ich glaube, nur über das Besondere, Unbekannte, kann man das deutsche Vollkslied bei der Jugend wieder interessant machen.“ „Volkslieder“, so erläutert er, „haben – einfach ausgedrückt – etwas mit dem Leben zu tun. Sie sagen darüber etwas aus. Ich glaube, es ist an der Zeit, den Nebel auseinander zu blasen, mit dem die Romantiker und die völkischen Ideologen unsere Volkslieder umgeben haben.“ Auch die Lieder der Deserteure, die von 1848 oder 1918, jene der Hungeraufstände und der Arbeiterkämpfe, ebenso auch die Gesänge aus den Konzentrationslagern seien mit dem Begriff ‚Deutsches Volkslied’ zu verbinden: „Wir müssen diesen Begriff endlich berichtigen. ‚Deutsche Volkslieder’ haben weder mit ‚Volksseele’ noch mit ‚ewigen Werten’ etwas zu tun. Es sind einfach Lieder, die den ganzen Aspekt menschlichen Lebens umfassen, von der äußersten Sentimentalität bis zur harten oder derben Darstellung.“

1965 sang Peter Rohland dann diese von ihm wiederentdeckten, wie er sie nannte: „unverjährten Lieder“ auf dem zweiten Waldeck-Festival genau zu einer Zeit, da sich – wie in jenen historischen Jahren des Vormärzes – massive gesellschaftliche Eruptionen ankündigten. Auch bei den Bündischen begannen die Geister sich zu scheiden, viele gingen den Weg mit in Richtung 1968.

Glücklicherweise hat man dieses historische Konzert – wie damals üblich ein diskutierender Workshop – aufgezeichnet. Jeder, der den getragenen Ton des volltönenden Baßbaritons der Schallplatten kennt, wird beeindruckt sein ob des engagiert-lebendigen Vortrags des Sängers, von dem Sie eingangs durch das von Peter Rohland gesungene „Trotz alledem“ aus diesem workshop einen Eindruck erhalten haben. Es vermittelt sich genau die Aktualität und Frische jener Texte, in denen Rohland als Liedforscher begeistert die „wahrhaft demokratische Tradition“ entdeckte, „auf welche“, wie er argumentierte, „sich unser Staat berufen müßte“ – eine damals kontrovers diskutierte These – populär gemacht Jahre später dann durch Gustav Heinemann. Einen Monat nach seinem Waldeck-Auftritt war Peter Rohland dann der erste politische Sänger, der im Theatersaal der FU Berlin auftrat und eine Debatte provozierte.

Beim Hören der Lieder ist man besonders berührt von den Texten aus dem Frühling des Jahres 1848: Wieviel Hoffnung und freudige Erwartung spricht aus ihnen:

„Die Völker wollen Brüder sein,
gleichviel wo sie geboren;
sie wollen keinem Thronverein
Sich als Kanonenfutter weih’n.
Das haben sie geschworen!“

Peter Rohland identifiziert sich mit der Gesellschaftskritik der von ihm vorgetragenen Lieder: „Ein Deutschland“, so formulierte er, „welches nicht auf den Schlachtfeldern Frankreichs unter preußischen Vorzeichen, sondern kraft einer Revolution von Volksvertretern geschaffen worden wäre, hätte eine andere Ausprägung gewonnen.“ Auch machte er in seinen Erläuterungen auf das Neue der politischen Dichtung um 1848 aufmerksam, dass sich nämlich nun in die vaterländisch-kämpferischen Töne der Arndt und Körner kräftig die der Satire und Ironie mischten. Heines bissige Zeitgedichte nennt er, Chamissos „Tragische Geschichte“ „von einem, dems zu Herzen ging, daß ihm der Zopf so hinten hing“, dann aber vor allem die vielen Lieder, in denen sich unbotmäßiger Ton mit befreiendem Spott auf höfischen Geist und devote Unterordnung mischt, die Ballade vom guten, stammelnden Untertan beispielsweise oder auch jene Hymne der Alt-48er.

Gewiß, man tobt sich einmal aus –
Es wär’ ja um die Jugend schade –
Doch, führt man erst sein eigen Haus,
So werden Fünfe plötzlich grade.
In welcher Mühle man uns mahlt,
Das macht uns nimmer viel Beschwerden;
Der ist mein Herr, der mich bezahlt –,
Ich will ein guter Bürger werden.

Solche Lieder in deutscher Sprache hatte das Publikum zuvor noch nie gehört. Dass sie heute zum Kernbestand des deutschen politischen Liedes gehören und während des vergangenen halben Jahrhunderts von vielen Sängerinnen und Sängern, unter ihnen sind besonders Hein & Oss Kröher zu nennen, auch wieder gesungen und weitergetragen wurden, das verdanken wir an erster Stelle Peter Rohland. „Macht nichts“, meint Walter Mossmann, „dass einige dieser Lieder im Lauf der 70er Jahre zu gipsernen Standards wurden und dass einem irgendwann der frömmlerische Bürgerlied-Gesang und das Trotz-alledem-Geknödel auf den Wecker gehen konnte, macht gar nichts, denn an solchen Standards kann man sich ja auch reiben, wenn man will.“ Ich schließe deshalb mit der Aufforderung, die Peter Rohland 1965 an seine Zuhörer richtete: „So sehr man sich vor voreiligen Kausalitätsketten hüten sollte, möchte ich Sie bitten, diese Lieder nicht nur unter dem historischen Gesichtspunkt zu betrachten“.