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Brief von Peter Rohland aus Paris an seine Freunde

Diesen Brief schrieb Peter Rohland während seines Paris-Aufenthaltes 1962. (Scan des handschriftlichen Briefes als PDF-Download)


Liebe Freunde. Ein Lebenszeichen aus Paris.

Entschuldigt bitte dieses summarische Schreiben per Abzug, besser Durchschlag. Es wäre eine dankbare Aufgabe für einen schriftstellerisch begabten Menschen ein Erlebnis immer wieder neu zu schildern, wie es Geist, Stimmungen und die wachsende Kunstfertigkeit des Schreibens wohl zu Stande brächten. Schließlich wäre dann ein Gesamtbild entstanden, reifer und geläuterter, und das Ethos des persönlichen Briefes bliebe gewahrt. Doch ich kapituliere von vornherein, denn dieses Monstrum Paris jagt mit der Hetzpeitsche seines kochenden Lebens und seiner Visionen den plötzlich Hereingefallenen von einem halbgaren Verarbeiten zum anderen. So gibt es Tage absoluter Aufnahmeunfähigkeit. Im dumpfen Dämmer sitzt man lieber im Hotelzimmer, hoffend, daß dieses gefährlich surrende Riesenrad sich doch bitte zu kleinen Lämmerwölkchen ordnen möge oder besser zu kleinen gemütlichen, lieben Karussels. Allzuviel Anregung ist ungesund – auf allen Gebieten. Das geht bisweilen so weit, daß mir selbst das Grausen kommt, wenn Bartmänner mit Gitarren durch die Straßen eilen oder in Ubahndurchgängen singen. Die Dampfwalze des Pariser Chancon ist wirklich beeindruckend. Unzählige Cabarets, Musikhalls, Kneipen in denen gesungen, getanzt, gespielt, gerhythmet wird. Die ständige ununterbrochene Weiterentwicklung des Chancons hier ist wirklich großartig. Die junge Chancongarde ist unglaublich stark vertreten und sehr vielfältig.

Mit Mühe habe ich die suggestiv vorgebrachten Kommentare: „Dir gefällt es, du kommst nie wieder!“ „Du bist in 8 Tagen wieder hier, Paris ist greulich!“ usw. habe ich diese Kommentare vergessen. Ich finde Paris außerordentlich anregend, möchte aber nicht sehr gerne lange hier sein müssen. Das Gefühl zu haben: Du kannst ja fahren, wenn du genug geschöpft hast! ist ein sehr schönes Gefühl. Also kurz: Ich fühle mich hier zum weitaus größerem Teil wie zu Besuch. Ein wenig Heimatgefühl empfinde ich allerdings, wenn ich abends im Contrescarpe ISMAEL singen höre, wenn er mit großen Dehnungen sein Lied: „La manana de San Juan“ beginnt. Er ist sicherlich mit der Größte hier – aber ebenso sicherlich empfinde ich das als Einziger.

Also: Ich singe jeden Abend im literar Chansonkabaret Contrescarpe. Die ersten Abende war ich als Zuhörer dort und da Daniel Lalon nicht aufzutreiben war, nahm ich die Sache selbst in die Hand. Mußte eines Nachts 3 Uhr vorsingen. Und wurde engagiert. Das Contrescarpe liegt am Platz Contrescarpe, der so ziemlich das Herz des Quartier Latin darstellt: Er liegt geographisch gesehen fast in der Mitte des Quartiers. Ein kleiner, beinahe kleinstädtischer Platz mit schmalgliedrigen, ziemlich niedrigen Häuserfronten, bunte angewitterte Hauswände. 3 Restaurants. Inmitten ein Rondell mit Bäumen. Clochards, mit schon halb dumpf-tierischen Bewegungen Wein trinkend. Ein leerer Omnibus. Wenig Verkehr. Relativ still. Eine Parisidylle, wie sie Felsenstein auf die Bühne stellen könnte und in seiner Boheme auch auf die Bühne gestellt hat: Im Contrescarpe viele kleine Hocker und kleine Tische. Wände nackt und kahl. Raum so groß wie die 3 unteren Räume im Seebehaus zusammen. Alles sehr primitiv. Barkeeper mit Pullover. Die Sänger singen in bunter Reihe, jeder etwa 30 Minuten. Sie sitzen auf zwei übereinander gestellten Hockern. Es singen außer mir 8 Leute, davon sind 2 Amerikaner und 2 Spanier und die anderen Franzosen. Ein Mädchen darunter. Das Publikum ist unter der Woche gut – an Wochenenden kritisch. An Samstagen findet man selbst kaum noch einen Stehplatz. Normalerweise hört man sehr still und aufmerksam zu. Die Besucher sind meist jüngeren ALters; doch auch die ältere Generation fehlt nicht. 2 Franzosen singen das humoristische sexgepfefferte Chancon, einer singt lyrisch, Ismael sind alte spanische Lieder, das Mädchen zynisch und patriotisch aufreizend, ein Gittarist spielt Flamenco, die Amerikaner machen auf Blues und ich singe deutsch und jiddisch. Etwas kritisch. Beinahe jeden Abend gibt es einen Tisch, der da ein wenig opponiert. Doch artete es bisher noch nicht zu einem offenen Skandal aus. Das liegt aber durchaus drin. Eine Welle deutschfeindlicher Kriegsschinken läuft gerade durch die pariser Kinos. Vielleicht rührt es daher. Oder sind es noch die alten Ressentiments? Wenn ich meine Zuhörer betrachte, und sie versuchte einzuteilen, so würde ich jeweils 1/3 den Ressentiments-Verhafteten zuweisen. Ich weiß nun nicht, ob eines Tages dem Chef des Ganzen der Boden zu heiß wird. Bis jetzt jedenfalls tritt er mit für meine Sing-Tendenz ein. Es lohnt sich sehr, das alles einmal zu sehen. Falls einer von Euch tatsächlich einen Besuch in Angriff nehmen sollte: Meine Anschrift: P.R. Paries Rue Censier 28, Hotel MAXIM 5e. Paris ist teuer. Man muß für einen Tag schon die ungeheure Summe von 15-20 DM aufbringen. (Entschuldigt: 15-20 Francs, das sind 12-16 DM)

Nun grüßt Euch alle herzlich
Euer pitter


Scan des handschriftlichen Briefes als PDF-Download