Rückblick Jour fixe: Vagabundenlieder

Liedforschung mit Tiefgang

Werner Hinze befasst sich seit langem mit Liedern und der Rekonstruktion ihrer „Biografien“, des politischen und sozialgeschichtlichen Umfeldes ihrer Entstehung, ihrer Rezeption und Umdichtungen.* Beim Jour fixe am 8. Juni auf der Waldeck referierte er über das Thema „Vagabundenlieder“, dem er 2002 sein erstes Liederbuch „Lieder der Straße“ gewidmet hat.

Anhand von Liedbeispielen erläuterte Hinze den Hintergrund der Lieder – und der ist weder lustig noch romantisch. Die „Lieder aus dem Rinnstein“, die Hans Ostwald, selbst ein „Vagabund“, um 1906 aufschrieb und auf dessen Sammlung Hinze aufbaut, beschreiben nicht nur das fröhliche Wanderleben, das heute noch in so manchem „Volkslied“ besungen wird: „Wolln uns auf die Fahrt begeben, das ist unser schönstes Leben…“

„Als im 19. Jahrhundert der Zunftzwang abgeschafft, nach dem Krieg mit Frankreich das deutsche Kaiserreich gegründet worden war und die Industrielle Revolution das Wirtschaftsleben verändert hatte, blieben viele Handwerksburschen auf der Straße. Neben denen, die schon immer Schwierigkeiten hatten, nach ihrer Wanderschaft den Weg ins bürgerliche Leben zurück zu finden, gesellten sich andere, der die Gesellschaft wenig Chancen gab, sich in ihren Schoß zu begeben. Besonders in den Jahren nach 1880 entwickelte sich eine so genannte „Kundenkultur“, die durch die Wirtschaftskrise ab 1900 weiteren Zulauf erhielt.**

Hinzes Liedbeispiele zeigen – neben unsentimentalem Witz und Galgenhumor – vor allem die dunklen Seiten des Lebens auf der Straße, den Hunger, den Schmutz, die Krankheiten, die Verfolgung, die Hoffnungslosigkeit der wohnsitz- und arbeitslosen Vagabunden, die nicht, wie die Wandervögel, aus Abenteuerlust, sondern der Not gehorchend „on the road“ waren.

Ein Gutteil ihrer Wirkung beziehen diese Lieder daraus, dass der Melodie eines bekannten, meist romantischen Liedes ein parodierender Text unterlegt wurde: „Drunten steht das dunkle Kittchen“. Hinze weist jedoch auf noch viel längere Traditionslinien hin. Gleich das erste Beispiel, das „Deutsche Kundenlied“ („Weißt du wieviel Kunden laufen…“), das Peter Rohland gesungen hat, führt er auf eine heterogene Tradition zurück. Das biedermeierliche „Weißt du wieviel Sternlein stehen“, auf das das Kundenlied zurückgeht, hat nämlich selbst Vorgänger und auch parodistische Nachfolger bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts.***

Wie man liest, wird zur Zeit wieder einmal ein Revival des deutschen Volksliedes ausgerufen – und prompt wird diesem von engagierter Seite der Stempel „rechts“ aufgedrückt.****

Was ist ein Volkslied? Mit einer platten Definition könnte man ein überliefertes Lied als Volkslied bezeichnen, wenn eine breite Mehrheit es mitsingen kann. Das wäre aber ein zweifelhafter Begriff, denn was zum Allgemeingut werden soll, ist steuerbar, schon gar im Zeitalter der Medien. Wem dieser Begriff nicht genügt, kommt um Werner Hinzes Begriff einer „Musik von unten“ nicht herum. Er versteht darunter die „…Musik sozialer Bewegungen“, die dort zu finden ist, „wo immer soziale Gruppen aufgrund eines gemeinsamen Zieles bzw. gemeinsamer Erfahrungen, im Sinne einer kulturellen Bewegung ‚von unten‘, entstehen und sich musikalisch artikulieren.“

Damit kann man eine Brücke schlagen zu Johannes Ismaiel-Wendt, der beim diesjährigen Pfingstgespräch den Ursprung von Popmusik an dem Aufstand der Unterdrückten in kolonialen Regimen festmacht.

GMP

* 2002 – nach Abschluss seiner Dissertation „Schalmeienklänge im Fackelschein“ über die Rolle der KPD in den zwanziger Jahren – begann Hinze im Verlag Tonsplitter zu publizieren. Er kann sich dabei auf ein beachtliches, seit den siebziger Jahren aufgebautes Archiv stützen. Bisher sind entstanden:

  • Hinzes Dissertation: Schalmeienklänge im Fackelschein 2002 (als Buch oder als CD),
  • drei Liederbücher: „Lieder der Straße“ 2002, „Seemanns Braut is‘ die See“ 2004 und „Notensalat mit Geilwurz“ , 2005, jeweils mit einem „Lexikon-Lesebuch“, das den historischen und sozialen Hintergrund der Lieder erklärt,
  • ein „kleines Liederbuch“ 2005, nur mit Noten und Texten: Dree Rosen (plattdeutsch),
  • zwei Monografien mit „Liedbiografien“: „Lili Marleen“ 2004 und „Weißt du wie viel Sternlein stehen – O, du Deutschland ich muß marschieren“ 2005 und
  • ein „Zeitdokument“: Johann Most und sein Liederbuch. Warum der Philosoph der Bombe Lieder schrieb, 2005.

** Aus: Weißt du, wie viel Sternlein stehen …, Seite 38.

*** Ebenda Seite 41f.

**** Siehe Folker! 03.07, Seite 20ff. und UZ 18. 5. 07.


Werner Hinze: Lieder der Straße. Liederbuch und Lexikon-Lesebuch, hg. zusammen mit dem Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“, Hamburg (Tonsplitter Verlag) 2002, 176 u. 192 Seiten, 29,80 Euro (davon bekommt „Hinz&Kunzt“ 1,- €), ISBN 3-936743-01-0, ISSN 1611-034X. Besprechung siehe Folker! 04.03, Seite 63.

tonsplitter@aol.com

www.tonsplitter.de

(aus: KÖPFCHEN 2/2007, Seite 18f.)